Auszug aus einem Artikel der Süddeutschen Zeitung vom 28.10.08 - lasst euch bitte vom "Bleiwüstencharakter" nicht abschrecken!

Futter Courage - Warum eine Münchnerin in Brandenburg Armenspeisungen für Haustiere organisiert - und sich damit harsche Kritik einhandelt.

Schon kommen die ersten Tierbesitzer, reihen sich diszipliniert in die immer länger werdende Schlange ein. Die Menschen, die hier warten, sind Hartz IV-Empfänger. Sie stehen an der "Tiertafel" im brandenburgischen Rathenow an. Ihr Geld reicht hinten und vorne nicht. Mit 345 Euro im Monat - plus staatlicher Zuschüsse - müssen sie nicht nur sich, sondern auch ihr Haustier durchfüttern. Deshalb sind die Menschen froh, dass es die Tiertafel gibt.

Rolf, ein bärtiger Mann in Jeanskluft, ist Mitte 50. "Früher habe ich wie alle hier in einem der Optikwerke gearbeitet." Nun kehrt Rolf Woche für Woche auf das Gelände zurück, auf dem nun nur noch Industrieruinen stehen. Er sagt, er sei froh, dass er in diesen Zeiten wenigstens das Futter für seinen Terrier Sammy noch umsonst bekomme. So spare er 60Euro monatlich. "Sammy hat mich noch nie im Stich gelassen. Meine Freunde und Arbeitskollegen schon." Überall bellt und kläfft es. Eine 35 Jahre alte Frau, die mit Hund und Kind zur Tiertafel gekommen ist, begrüßt einen Bekannten und herzt seinen Mischling. "Na, wie geht es, Schnuffel?", fragt sie. "Der Kleine ist immer noch ganz schön wild", sagt der Mann. Die beiden kennen sich vom Jugendsommerlager in der DDR. "Seit der Wende bin ich nie wieder in den Urlaub gefahren", sagt die Frau.
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Claudia Hollm, 44, ist gelernte Hotelkauffrau und Programmiererin. Sie stammt aus München und ist froh darüber, dort nicht mehr zu leben: "Zu viel Schickimicki". "Ganz bewusst" sei sie mit ihrem Mann nach Rathenow gezogen. "Wir haben ein hübsches Häuschen hier, direkt am Wald." Kinder hat das Paar keine, aber drei Hunde, eine Katze und Pflegekaninchen. Claudia Hollm ist die "Mutter aller Tiertafeln" in Deutschland. 18 solcher Einrichtungen gibt es, 600 Mitglieder unterstützen Hollms Idee aktiv oder mit Geld. 3000 Deutsche versorgen bei Tiertafeln ihre Lieblinge. Hamburg und Berlin etwa melden die Verteilung von je 700 Kilo Tierfutter wöchentlich. 31 weitere Ausgabestellen sind in Planung. "Wenn wir uns um die Tiere kümmern, kommt das auch den Menschen zugute", sagt Hollm. "Denn Tiere geben den Menschen Hoffnung".

Ursprünglich waren Tafeln nur für Menschen gedacht. Vor genau 15 Jahren hatte die Berliner Familienpflegerin Sabine Werth nach dem Vorbild der New Yorker Initiative "City Harvest", bei Bäckern, Obst- und Gemüsehändlern damit begonnen, alles einzusammeln, was sich nicht mehr verkaufen ließ. Die Spenden leitete sie an bedürftige Menschen weiter. Ist Hollm die Mutter aller Tiertafeln, so ist Werth die Mutter aller Armentafeln in Deutschland.

800 dieser Einrichtungen versorgen mittlerweile gut eine Million Menschen. Tafeln sind zur Boombranche geworden. Nicht nur, weil das Angebot von immer mehr Bedürftigen angenommen wird. Auch, weil sich immer mehr Supermarktketten an der Idee beteiligen: So sparen sie sich die Entsorgungskosten. Spendenquittungen bringen oft finanzielle Vorteile. Wer zehn Kisten Äpfel beisteuert, bekommt eine Spendenquittung über den Warenwert von zehn Kisten Äpfeln - egal, wie genießbar sie noch sind.

Vor zwei Jahren hatte Claudia Hollm die Idee, das Tafelmodell auch auf Tiere anzuwenden. "Abartig" sei dieser Missbrauch, schimpft Sabine Werth nun, "widerlich" und "unmöglich". "Hollm hat sich an unseren guten Namen angehängt und ein Logo entwickelt, das unserem Logo ähnelt", sagt sie. "Das gehört sich nicht." Die Tafel-Erfinderin warnt vor einer Inflation der Ausgabestellen. "Wenn es immer mehr Organisationen gibt, die kostenlos alle möglichen gesellschaftlichen Gruppen versorgen, wird aus einer Zusatzversorgung eine Grundversorgung. Dann kann die Politik getrost die Renten einfrieren und Hartz IV kürzen. Das darf nicht passieren!"

Die Tierbesitzer, die in Rathenow zur Futterausgabe anstehen, wissen nichts von dem Streit zwischen den zwei Frauen. Sie freuen sich über die Möglichkeit, etwas umsonst zu bekommen. "Wir sind sieben Kinder daheim und haben zwei Hunde, viele Katzen, Hasen und Meerschweinchen", erzählt eine 20 Jahre alte Frau, die einen Lolli lutscht. "Mein Vater hat Nasenkrebs. Ohne die Tiertafel würden wir wahrscheinlich verhungern." Wie viele hier hat auch sie keine Arbeit. "Wenn du da einmal drin bist, kommst du nicht mehr raus", sagt die ehemalige Verkäuferin neben ihr.

Besonders stolz ist Claudia Hollm darauf, dass auch Tierärzte, Hundetrainer, Physiotherapeuten und Homöopathen ihre Tiertafel unterstützen. Sie geben den Tierhaltern gute Tipps für die artgerechte Haltung. Besitzer, die sich unkooperativ zeigen, bekommen kein Futter mehr. Zudem verpflichte sich jeder, in der Zeit, da ihn die Tiertafel unterstütze, keine weiteren Haustiere aufzunehmen. "Sonst kommen wir ja in den Wald."


Während die Schlange vor der Ausgabe in den unbeheizten Räumen der Rathenower Industrieruine immer länger wird, begrüßt Hollm auf dem Parkplatz ihre Kunden. Sie hört, dass der Rüde Dusty eine Hautkrankheit erfolgreich mit Spezialfutter bekämpft hat. "Ihr müsst dem Hersteller unbedingt einen Dankesbrief schreiben", empfiehlt Hollm. "Damit die uns künftig noch mehr spenden." Und was macht Bonny? "Gebärmutterkrebs", sagt eine Frau in Jogginghose. "Oh, Mann!", seufzt Hollm. Dann überreicht sie dem Besitzer von Idefix, einem jungen Mann in Nadelstreifenhose und mit blond gefärbtem Zopf, einen gebrauchten Rattenkäfig. "Bloß nicht mit Sägespänen füllen", warnt sie. "Daran können Ratten ersticken."

Dass sie der "Bundesverband Deutsche Tafeln" kürzlich abgemahnt habe, beeindruckt Claudia Hollm nicht. Der Verband sieht die ursprüngliche Tafel-Idee Sabine Werths von der Tierfreundin missbraucht und wünscht sich, die Chappie-Ausgabe möge sich schnellstmöglich umbenennen. "Ich habe einen phantastischen Anwalt als Berater", sagt Hollm. Einer juristischen Auseinandersetzung mit dem Bundesverband sehe sie deshalb "ganz gelassen" entgegen.

Mittlerweile sind es gut 40 Tierbesitzer, die auf Klappstühlen sitzen und Tupperdosen in den Händen halten. Sie warten auf Kauknochen, Kraftfutter und Kratzbäume. "Meine Freunde, die keine Tiere haben, sitzen den ganzen Tag doch nur vor dem Fernseher und schütten ein Bier nach dem anderen in sich hinein", erzählt Rolf, der ehemalige Optikwerkarbeiter. "Deshalb bin ich so froh, dass ich meinen Terrier Sammy habe. Sammy zwingt mich dazu, regelmäßig rauszugehen." Aber wäre es nicht tatsächlich sinnvoller, Geld für Menschen zu sammeln, statt für Tiere?
"Ich habe doch sonst keinen", sagt Rolf. "Und wenn Sammy stirbt, dann sterbe auch ich, irgendwie."

Dazu ein Leserkommentar über die Situation in München
Leider hat der Beitrag eines nicht wieder gespiegelt: Dass eigentlich ein Bericht über die Tiertafel-Ausgabe München geplant war. Dieser wurde dann aber über die Zentrale in Rathenow gemacht, da München derzeit keine Ausgabestelle hat! Weil es keinen Vermieter hier gibt, der der Tiertafel kostengünstig Lager und Ausgaberäume zur Verfügung stellen kann - umsonst haben wir uns schon lange abgeschminkt. Und auch die Stadt hat die Tiertafel bisher nicht unterstützt.
Wegen Beschwerden von Anwohnern hat die Münchner Tiertafel die Räume Ende August verloren. Dabei findet nur 1x pro Woche für 3 Stunden die Ausgabe statt - und damit die "Lärmbelästigung" durch die mitgebrachten Hunde. Seither warten ca. 500 Münchner und ihre ca. 1.400 "Zamperln" darauf, dass sie wieder mit versorgt werden - und wenigstens einmal in der Woche mit ihren Sorgen und Nöten ein offenes Ohr, ein paar freundliche Tipps und ein Lächeln zusammen mit dem Futter auf den Heimweg bekommen.....
Marion Aschenbrenner
Ehrenamtliche Ausgabeleitung München


Quellehttp://www.sueddeutsche.de/p...825/315714/text[/url]

Ich weiß, dass so eine Bleiwüste eine ziemliche Zumutung zum Lesen ist, aber ich finde diesen Artikel sehr wichtig.
Die Leute der "Menschen"Tafel können doch sehr stolz auf ihre Idee und ihren Erfolg sein und sich freuen, dass sie Nachahmer gefunden haben. Noch einfacher wäre es natürlich (jedenfalls für mich als Außenstehende), wenn die Tafeln sich auch gleich um die Haustiere der Menschen mitkümmern könnten. Und das Geld für den Rechtsstreit könnte man bestimmt besser verwenden

Hallo Irene,

deine Meinung unterstütze ich vollkommen. Die Tafel für die Menschen muß sein und für die Haustiere auch. Denn woher sollen manche Rentner und Harz 4ler das Geld für Futter für Hund oder Katze bekommen. Armut macht einsam und vielen bleibt nur sein Haustier aus besseren Zeiten, als einziger wahrer Freund. Die sollten sich wirklich schämen über solche Haarspaltereien.

Hallo,

ganz sicher gehöre ich zu denen, die, Tierschutz hin oder her, als Allererstes das Wohl der Menschen im Auge haben. Und definitiv finde ich es abartig, wenn Leute mehr Geld für ihr Haustier ausgeben, als manche Familie mit Kindern zum Leben hat.

Aber:

Ich glaube, dass die beiden streitenden Damen wohl eine ganz wichtige Sache vergessen:

Wenn Menschen in mehr oder weniger aussichtslosen Lebenssituationen von ihrem "besten Freund" sprechen und damit ihr Haustier meinen - egal welches - dann steckt dahinter nicht selten der allerletzte Halt, den sie haben.

Der die Psyche stabilisierende Effekt von Tieren ist vielfach nachgewiesen und seit der Verarmung durch Arbeitslosigkeit und Einführung von Hartz IV füllen sich die Psychiatrien und die Suizide steigen. Leider gibt es keine Statistik darüber, wie viele Menschen nur deshalb noch keinen Selbstmord begangen haben oder anderweitig psychisch krank geworden sind, weil sie ein Haustier haben. Insbesondere Hunde erhalten und initiieren die sonst häufig versiegenden Sozialkontakte.

Die Aussage
"Ich habe doch sonst keinen", sagt Rolf. "Und wenn Sammy stirbt, dann sterbe auch ich, irgendwie."
bringt es wirklich auf den Punkt und ist durchaus vielfach wörtlich zu nehmen.

Der guten Frau Werth sei der alte Spruch anempfohlen:

"Der Mensch lebt nicht vom Brot allein!"

Ich finde diese Idee nachahmenswert.

Hallo Mo,
was das Verhältnis von Geldausgaben für Kinder und Haustiere angeht, bin ich völlig deiner Meinung (Einschub: ich habe nur gar kein Verständnis dafür, wenn für Lebensmittel weniger Geld da ist als für das Familienauto). Ich habe gerade ein bißchen gestöbert auf der Seite http://www.tiertafel.de, einige interessante Anregungen gefunden, z.b. http://www.papierbank.de, und denke, wir sollten uns dort vorstellen und die Tiertafel hier bei uns. Kennt ihr noch weitere Organisationen, die helfen können, Notfälle zu verhindern?